In den achtziger Jahren
war das Thema Religion in allen erdenklichen Variationen auf lichtbeorgelten
Teenager-Kellerparties weit verbreitet. Männlein und Weiblein trauten sich nicht über
Sex zu reden ("Über Sex kann man nur auf englisch singen" stellten viel später
Tocotronic fest und hatten einmal mehr Recht) und so suchte man sich ein Thema über das
man ausdauernd diskutieren und sich dabei dem anderen Geschlecht unauffällig nähern
konnte. Denn unauffällig mußte sie in jedem Fall sein die Annäherung. Man warf mit
bierernstem Gesicht Fragen ý la "Was, glaubst du, kommt nach dem Tod" oder
"Wer ist eigentlich Gott" in den Raum. Auf letztere Frage habe ich viele Jahre
später die für mich ultimative Antwort gefunden. Völlig unverhofft, war sie doch mit
Edding auf den Betonpfeiler einer Autobahnbrücke gekritzelt: "Tocotronic sind
Gott". Wie wahr, dachte ich und stellte eines ihrer "reichlich
Identifikationspotential bietenden Zitate" (Kollegin Katja Früh) diesem Text voran.
Der ist einem Mann mit Namen Ralf Koch gewidmet. Ralf Koch trägt die Nummer 531 und
weckte lange nach den eingangs erwähnten Teenager-Parties, in den späten Neunzigern,
mein Interesse. Er fiel mir im wahrsten Sinne des Wortes in die Hände. Und zwar in einem
Autohaus der Firma BMW. Jenes Autohaus, in dem hunderte von edlen Karossen friedlich
Seite an Seite lebten, besuchte ich gemeinsam mit einem Kollegen, der ernsthaft in
Erwägung zog, sich ein Gefährt jener Marke zuzulegen. Ich war mitgekommen, in dem
stillen Glauben, ich könne das Unglück verhindern. Am Empfang des Autohauses saß eine
gut gebaute blonde Maus, die durch einen unglücklichen Zufall den Talent-Scouts der
Model-Agenturen entgangen war (obwohl sie wahrscheinlich seit der Entdeckung von Claudia
Schiffer mindestens drei mal wöchentlich die längst-nicht-mehr-in-Diskothek
Checkers besuchte, aufgetakelt bis zum Abwinken natürlich). Die Model-Maus
lächelte und fragte, ob sie uns helfen könnte. "Ja, ich suche die Abteilung für
Damenoberbekleidung", hätte ich fast zu ihr gesagt, hörte aber im gleichen Moment
meinen autovernarrten Kollegen den Namen des Modells sagen, für das er sich
interessierte. "3. Stock", flötete die Model-Maus, "gleich hier die Treppe
rauf".
Auf eben jener Treppe änderte sich mein Leben. Auf der halben Etage war ein
Prospektständer an der Wand angebracht, in dem sich zahllose Broschüren des Autohauses
stapelten. Ich griff nach einem der Faltblätter, das die angestellten Verkaufsberater
vorstellte. Mit Paßfotos. Mein Blick fiel sofort auf Ralf Koch. Ich erstarrte auf der
halben Etage des BMW-Autohauses. Vermehrter Speichelfluß setzte ein und der Speichel fand
in langen Fäden den Weg zur Erde. Ralf Koch war ein Adonis, er war ein Bild von einem
Mann. Gepflegter Kurzhaarschnitt mit einem Ansatz von Geheimratsecken, der ihn auf
durchaus attraktive Art reif erscheinen ließ. Sanfte wässrig-blaue Augen, die mit seinem
blau-weiß gestreiften Hemd hervorragend korrespondierten. Darüber trug er ein Jackett
undefinierbarer Farbe und als I-Tüpfelchen eine Obelix-Krawatte. Unter seiner Nase hatte
er einen schmalen Oberlippenbart gezüchtet, jene Art Gesichtsfotze die zum Leben zu breit
ist und zum Sterben zu schmal. Für mich stand vom ersten Moment an fest: Diesen Mann
mußte ich kennenlernen. Ich durchsuchte jeden Winkel des Autohauses. Jede Menge BMWs,
wahlweise in champagner, bordeaux oder blau-metallic (der Farbton hieß dann
wahrscheinlich "mare" oder "heaven" oder ähnlich schlecht) von
Ralf Koch keine Spur. Ich warf einen erneuten Blick auf den Prospekt. Schließlich traf
ich meinen Kollegen wieder, der in der Zwischenzeit ein champagnerfarbenes (!!!)
BMW-Cabriolet erworben hatte. Er winkte mit den Schlüsseln: "Na, kleine
Probefahrt?" "Ich muß dir was zeigen", hechelte ich, "ich habe den
Mann meines Lebens gefunden". Ich zeigte ihm das Foto. "Schmuckes
Kerlchen", befand er, "und wo ist das Original?" "Das werde ich gleich
herausfinden", sprach ich und ging schnellen Schrittes zu der Model-Maus am Empfang,
die sofort wieder ihr dämliches Lächeln anknipste. Jetzt könne sie mir doch helfen,
erklärte ich ihr: "Ich suche diesen Mann. Ralf Koch." Er habe Urlaub, erklärte
sie, noch bis Ende der Woche. Ich erkundigte mich nach seiner Telefon-Durchwahl und
erklärte der Blonden, daß ich eine eingehende Beratung brauche und deshalb einen Termin
mit Ralf Koch ausmachen müßte. Sie gab mir die Nummer.
Die folgenden Tage waren tiefdunkel. Das "Ende der Nacht" (Tocotronic) kam am
darauffolgenden Montag. Mit zittrigen Fingern wählte ich die Nummer, die die Blonde vom
Empfang mir gegeben hatte. Es klingelte ein mal, zwei mal dann wurde abrupt
abgehoben. "BMW Autohaus, mein Name ist Ralf Koch, was kann ich für Sie tun?"
meldete er sich. "Eine ganze Menge kannst du für mich tun, Schätzchen, ich darf
doch du sagen", hörte ich mich in den Hörer hauchen. Ralf Koch sagte nichts.
"Du könntest mich zum Beispiel mit Deinem süßen Schnurrbart kitzeln, wo immer du
willst. Na, wäre das was?" Er sagte nur ein Wort: "Ja". "Dann komm
doch heute abend um 21:00 zu mir. Trage nur einen Mantel, sonst nichts, außer deiner
Obelix-Krawatte". Ich gab ihm noch meine Adresse, dann legte ich auf. Ich war ganz
sicher, daß er kommen würde.
Um zwei Minuten vor 9 klingelte es an der Tür. Ich öffnete. Ich war beinahe nackt.
Bis auf eine Seidenkrawatte, die ich am selben Nachmittag nach langem Suchen an einem der
überall in der Fußgängerzone wuchernden Stände mit Seidenkrawatten erstanden hatte.
Auf der Krawatte waren Asterix und Hund Idefix zu sehen. Ralf Koch schwitzte leicht, als
er auf dem Treppenabsatz erschien (vierte Etage, ohne Aufzug) und er begann so dämlich,
wie man einen solchen Abend nur beginnen konnte. Er fragte: "Haben wir heute
telefoniert?" "Schlauer Scheißer", entgegnete ich und zog den attraktiven
Autoverkäufer in meine Wohnung.
Candlelight-Dinner oder ähnlich emotionale
Verkitschtheiten waren nicht vorgesehen in meinem Plan. Ich schob Herrn Koch directement
in mein Schlafgemach. Dort öffnete ich seinen Mantel und mußte lächeln. Ralf Koch war
folgsam wie ein Hund. Er trug nicht mehr als die Obelix-Krawatte. "Und jetzt zieh
dich aus, du Sau", herrschte ich ihn an. Er nestelte ungeschickt an der 20
DM-Krawatte herum und schließlich gelang es ihm, sie von seinem Hals zu entfernen. Er war
sehr erregt. Ich nahm die Krawatte, legte meine ebenfalls ab und fesselte Ralf Koch mit
Händen und Füßen an die Bettenden. Dann stopfte ich ihm ein Spültuch in den Mund.
Männer wie Ralf Koch sollten besser schweigen. Ich richtete einen Halogenstrahler auf
sein Gesicht. In seinen wäßrig-blauen Augen wohnte die nackte Panik. Ich ging betont
langsam ins Badezimmer und holte den Naßrasierer, mit dessen Hilfe ich sonst das
Gestrüpp an meinen Beinen bekämpfe. Ich verteilte Rasierschaum unter Ralf Kochs Nase. Er
versuchte zu schreien, was das Spültuch zu verhindern wußte, wand sich in seinen Fesseln
ohne Erfolg. "So, jetzt wirst du richtig feingemacht", sagte ich leise zu
ihm und ließ seine Gesichtsfotzte Strich für Strich verschwinden.
Wenn ich in diesem Lande etwas zu sagen hätte,
müßten sich alle Männer zwangsrasieren. Eine Art Anti-Gottesstaat würde ich ausrufen.
Als ich mit Ralf Koch fertig war, nahm ich ihm den Knebel aus dem Mund. Er winselte. Ich
betrachtete zufrieden seine glatte Gesichtshaut. "Kann ich jetzt gehen, bitte?"
fragte er. Ich löste die Fesseln. Er schlüpfte in seinen Mantel, rannte zur Tür und
verschwand für immer aus meinem Leben. Auch ich denke nur noch selten an ihn. Dann hole
ich seine Obelix-Krawatte aus meinen Kleiderschrank, streiche über den glatten Stoff und
weine eine Weile still in mich hinein.