Mein 908.
Mann war Extremsportler und mir somit von Anfang an suspekt. Sein Name war Ralf und noch
heute würde ich ihn eher an seiner Wadenmuskulatur erkennen denn an seinem Gesicht. Ralf
hatte sein Leben dem Triathlon verschrieben, jenem Wettkampf, der sich aus vielen Stunden
Schwimmen, Radfahren und Laufen zusammensetzt. Ich traf ihn am Vorabend eines Wettkampfs
im Vereinsheim seines Triathlon Clubs "Neuss Now". An solchen
Vorwettkampfabenden treffen sich Triathleten zu etwas, was sie wohl unter "geselliges
Zusammensein" einordnen würden und für das mir die Worte fehlen. Mit gepflegten
Gesprächen und dem ein oder anderen Gläschen Wein hat das Ganze jedenfalls nicht im
entferntesten zu tun. Statt dessen werden Berge von matschigen Nudeln mit Soße
aufgetischt, die sich die Sportler Teller um Teller in die gierigen Schlunde schieben,
ohne dabei miteinander zu kommunizieren.
Kommunikation ist in diesen Kreisen offensichtlich ein Problem. Ich
mußte das Schweigen brechen, wußte aber lange Zeit nicht wie. Als Ralf sich den siebten
Teller Nudeln auftat und erneut zum Besteck griff, fragte ich: "Na, immer noch
hungrig?". Das schien mir ein guter Gesprächsbeginn. Doch der gewünschte Effekt
blieb aus. Mein Gegenüber nickte stumm. Aus seinen Mundwinkeln hingen dicke Stränge
Spagetti mit Soße. Nach zwei weiteren gut gehäuften Tellern, die ich auf meiner
Strichliste als die Nummern 8 und 9 vermerkte, löffelte Ralf ein Familien-Glas Nutella.
Anschließend entspannten sich seine Züge, sein Gesicht nahm einen zufriedenen Ausdruck
an. Er lehnte sich zurück und fragte mich, ob ich Lust hätte, ihm morgen beim Wettkampf
zuzuschauen. Ich hatte gänzlich andere Pläne für diesen Sonntag (im Bett liegen, auf
der Couch liegen, in der Badewanne liegen, fernsehen, telefonieren), hörte mich aber im
gleichen Moment zusagen.
So kam es, daß ich am Tag, an dem man
ruhen soll, um 7 Uhr aufstand, in ein ca. 50 Kilometer entferntes Kaff namens Waldbröhl
fuhr und mich an der Strecke plazierte. Es sollte einer der aufregendsten Tage meines
Lebens werden. Bereits nach ca. 5 1/2 Stunden Wartezeit, die ich mit dem Schmökern in
einem Triathlon-Magazin überbrückte, hetzten die ersten 3-Kämpfer an den Zuschauenden
vorbei. Sie sahen ohne Ausnahme aus wie ausgekotzt, was bei dem, was sie hinter sich
hatten, nicht weiter verwunderlich war. Es stolperten noch viele Wahnsinnige vorbei, bevor
Ralf ins Bild kam. Letztendlich landete er irgendwo zwischen Platz 40 und 50 und war auch
noch zufrieden damit. Nach diesem Tag sahen wir uns eine Weile nicht, bis Ralf mich eines
Abends anrief und vorschlug, mich zum Essen einzuladen. Als er sagte, daß er selber
kochen würde, war ich skeptisch.
Dennoch gab ich ihm eine zweite Chance.
Wie nicht anders zu erwarten wohnte er in der sechsten Etage eines Hauses ohne Aufzug.
Schnaufend oben angekommen, empfing er mich statt mit einem Sauerstoffzelt mit den Worten:
"Schuhe aus". Ich begrüßte ihn ebenfalls herzlich. Auf Strümpfen betrat ich
die Diele, in der ein riesiger Berg unterschiedlichster und allesamt geschmackloser
Turnschuhe lagerte. Doch das war noch nicht alles. Im Wohnraum standen ca. 15 Fahrräder,
ein Laufband sowie diverse Trimmgeräte, deren Namen und Funktion ich nicht kenne. Quer
über den Eßtisch war ein Volleyballnetz gespannt. In mir stiegen unangenehme
Erinnerungen an meine Schulsportvergangenheit auf. Ich versuchte, mich selbst abzulenken,
indem ich schnurstracks in die Küche ging. In einem Topf schwamm etwas, was entfernt an
Gnocci erinnerte, lediglich die Form rief Irritationen hervor. Später sollte sich dann
herausstellen, daß es auch geschmacklich kaum Überschneidungen mit dem Original gab.
"Alles selbstgemacht" strahlte Ralf. Mir fiel zum ersten mal auf, daß er nie in
ganzen Sätzen sprach, sondern es bevorzugte fragmentarische Gebilde von sich zu geben.
Von mir aus, dachte ich, dann komme ich mehr zu Wort.
Wir hatten gerade zu Ende gegessen, als
die Klingel meinen Monolog unterbrach. "Die Jungs vom Club", teilte Ralf gewohnt
wortkarg mit, "kommen zum Volleyball spielen". Meine Gesichtszüge entgleisten
vor Entsetzen und kurz darauf standen 8 Triathlethen mit Volleyball-Neigung im Wohnraum.
Ich überlegte fieberhaft, wie ich der Situation entkommen könnte. Dann kam mir die
rettende Idee: "Ich habe keine Sportklamotten dabei", sagte ich und unterstrich
die Aussage mit einem bedauernden Minenspiel, "ich werde kurz nach Hause fahren und
sie holen. Spielt doch schon mal eine Partie ohne mich". Als ich im Hausflur stand
und meine Schuhe wiederanzog, wußte ich längst, daß ich auf dieses Spielfeld um nichts
in der Welt zurückkehren würde. Schon allein deshalb, weil ich keinerlei Sportklamotten
besaß. |